Es war der 5. Dezember. Die Vorbereitungen für das Weihnachtsfest waren schon überall im Gange. Einkäufe wurden getätigt und viele Kinder freuten sich jeden Tag aufzustehen, weil sie ein neues Fenster ihres Adventkalenders öffnen konnten. Andere durften heute aus einem Fach mit der Nr. 5 ein kleines Päckchen herausnehmen, in welchem ein Stück Schokolade oder sonst eine kleine Süssigkeit darin verpackt war. Die Strassen waren in glänzendes Licht getaucht. Überall hingen Girlanden und Lichterketten. Manche Gebäude waren voll von Lichtern, andere hatten Lichterketten übers Dach herunter gehängt, so dass es aussah wie ein Wasserfall aus Lichtern. Die Strassen waren voll von Menschen. Bei den Spielwarengeschäften pressten Kinder ihre Nase an der Scheibe platt, während der Hauch ihres Atems die Scheibe anlaufen liess. Sie bestaunten die vielen Spielsachen in den Schaufenstern und erzählten sich gegenseitig, was sie sich vom Christkind gewünscht haben, während die Eltern eher die Weihnachtsdekoration in den Schaufenstern begutachteten und studierten, was sie ihren Kindern schenken könnten.

Etwas ausserhalb der Stadt stand das alte Waisenhaus „Wolkental“. „Nein, das können Sie nicht machen. Denken Sie doch bitte an die Kinder!“, die Frau am Telefon wirkte verzweifelt. Die Betreuerin gegenüber vom hölzernen Schreibtisch, biss sich auf die Lippe. „Ich bitte Sie…wir können nicht. Geben sie uns Zeit!....bitte…wenigstens bis nach Weihnachten..bitte...“, mit einem Seufzer liess sie den Hörer des alten Telefons in die Gabel zurückgleiten. Die Betreuerin sah zu ihr hin: „Nichts zu machen Isabelle.“ – „Aber Lisa was machen wir denn jetzt?“ Die Direktorin liess ihr Gesicht ihn ihre Hände gleiten und schüttelte den Kopf. Sie wusste nicht weiter. „Gibt es denn nicht noch irgendeinen möglichen Spender?“, wollte die Isabelle wissen. „Nein, ich habe schon so viele Leute gefragt. Diejenigen, die uns unterstützt haben, sind selbst konkurs gegangen und wir können niemals mit irgend einer Aktion genügend Geld einholen um Wolkental länger zu finanzieren. Wir werden das Waisenhaus nach 21 Jahren schliessen müssen.“ Beide Frauen sassen betrübt am Schreibtisch und schwiegen sich an.

Christian hatte genug gehört. Schnell rannte er zu den anderen zurück, die bereits im Zimmer versammelt auf ihn warteten. Klara, Lena, Lars, Jonas und Matthias redeten alle gleichzeitig auf Christian ein, als er herein kam „Und, was ist los?“ – „Hast du was gehört?“ – „Warum musste Isabelle zur Direktorin?“ – „Los, erzähl schon!“ – „Geht es Isabella gut?“. Christian wedelte mit den Händen herum um sie zum Schweigen zu bringen. Als endlich Ruhe war, erzählte er, was er soeben gehört hatte. Sie hatten alle Angst, dass ihre Lieblingsbetreuerin Isabella gerügt werden könnte und wollten wissen, was die Direktorin von ihr wollte. Deswegen hatten sie ausgelost, wer ihr Folgen und sich das Gespräch anhören sollte. Christian hatte das Los gezogen und was er zu erzählen hatte, war schlimmer als alles andere, was sie sich ausgemalt hatten. „Aber was passiert dann mit uns?“ – „Wohin kommen wir?“ – „Ich will hier nicht weg!“ Totale Aufregung herrschte im Zimmer und mitten ins Stimmengewirr antwortete eine ihnen nur zu bekannte Stimme: „Wir werden euch wohl in verschiedene andere Waisenhäuser aufteilen müssen. Leider hat keines Platz genug, als dass wir alle an einem Ort hinbringen könnten.“ Isabella stand an der Tür. Sie schien wieder ziemlich gefasst. Sie kannte die 6 Kinder mittlerweile ziemlich gut um zu wissen, dass diese gerne an Türen lauschten und oft über mehr Dinge Bescheid wussten, als ihr manchmal lieb war. Aber da sie ihr ans Herz gewachsen waren, nahm sie es ihnen nicht übel. „Es tut mir leid Kinder, wir sehen bis jetzt leider keinen anderen Weg! Auch alle anderen Kinder werden verteilt werden müssen.“ Die sonst so gesprächigen Kinder starrten sie nur aus grossen, traurigen Augen an. „Los Kinder, es ist Zeit zum schlafen. Geht nun ins Bett!“, unterbrach Isabella, der es beim Anblick der Kinder beinahe das Herz zerbrach.

Als die Kinder im Bett waren, ging sie wieder zu Lisa zurück. Sie weihte sie ein, dass die Kinder Bescheid wussten. Lisa konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Die 6 waren schon immer aufgefallen, auch wenn eigentlich nie im negativen Sinn. „Es ist wichtig, dass wir dafür sorgen, dass wir so viele Kinder wie möglich in eine Familie geben können. Wir sollten einen Aufruf starten!“ Isabelle nickte: „Wie viel Zeit bleibt uns denn noch?“ – „Nur noch 10 Tage zum zahlen. Wenn wir bis dahin nicht bezahlt haben, müssen wir 5 Tage später raus sein. Ich wollte erreichen, dass wir wenigstens Weihnachten noch hier verbringen könnten, doch er bringt leider kein Verständnis für uns auf! Das Haus soll 2 Tage nach dem Auszug abgerissen werden. Ich glaube es geht ihm nur darum, dass er das Land gewinnbringend bebauen kann.“ Lisa beauftragte Isabelle damit, am nächsten Tag mit den anderen Betreuern Flugblätter zu machen, die sie dann an den darauf folgenden Tagen gleich verteilen sollte. Für ein Inserat in der Zeitung reichte ihr Geld leider nicht mehr. Seit 21 Jahren war Wolkental ihr ganzer Stolz. In ihrem Waisenhaus zählte sie mittlerweile bis zu 35 Kinder. Sie alle hatten kein Zuhause mehr, weil ihre Eltern verstorben waren oder die Kinder ausgesetzt worden waren. Sie hatte nun 6 Betreuer und Betreuerinnen unter jenen Isabelle die Hauptbetreuerin war. Wenn das Waisenhaus geschlossen würde, so würden 35 Kinder aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen werden und unter Umständen ihre einzigen Freunde verlieren, die sie je besessen hatten und 6 Betreuerinnen würden arbeitslos werden. Sie selbst würde ihr Lebenswerk verlieren.

Die nächsten Tage waren voller Aufregung, Trauer, Wut und Hoffnungslosigkeit. Die Kinder wurden darüber informiert, dass sie aufgeteilt werden würden, man jedoch bevor man sie in ein neues Waisenhaus schickte, versuchen würde, eine Familie für sie zu finden. Der Besuchstag, der bereits am 10. Dezember statt finden sollte, erwarteten einige mit Hoffnung, andere mit Verzweiflung. Sie wollten alle nicht weg von hier, doch dies schien unvermeidlich. Lisa hatte in der Zwischenzeit erneut vergeblich versucht, irgendwelche Geldgeber zu finden. Das Dorf selbst war nicht reich und da sie bereits in tiefen Schulden steckte, wollte niemand in Wolkental investieren. Warum sollten sie auch, was würde ihnen die Rettung von so einem kleinen Waisenhaus auch bringen? Ruhm? Ehre? Nichts dergleichen würde geschehen. Lisa versuchte mit Mundpropaganda die Nachricht zu verbreiten, doch irgendwie schienen die Leute anderweitig beschäftigt zu sein. Schliesslich war bald Weihnachten und es mussten noch verschiedene Vorbereitungen getroffen werden. Es war für Lisa unmöglich, die Nachricht weit zu verbreiten. Sie fühlte sich hoffnungslos und wünschte sich nur noch, dass am 10. Dezember wenigstens einige interessierte Eltern kommen würden und sich eines Kindes annehmen würden.

Es ging schnell und der 10. Dezember war vor der Tür. Die Betreuerinnen rannten durch die Gänge und badeten die kleinsten, sagten den ältesten, dass sie den jüngeren helfen sollten und kümmerten sich darum, dass alle Kinder ordentlich und sauber aussahen. Die Kinder hatten am Vortag die Halle mit den Tischen geschmückt und ein grosses „Herzlich Willkommen“-Plakat gemacht. Alle waren aufgeregt und sassen an ihren Tischen. Draussen war schönes Winterwetter. Der Schnee lag überall und die Sonne schien. Um 10 Uhr war der Besuchstag eröffnet, doch es erschienen keine Gäste. Eine geschlagene Stunde warteten die Kinder teils schweigend, teils spielend oder einfach nur sich unterhaltend darauf, dass Eltern kommen mochten. Da um 11 Uhr kam endlich ein Päärchen vorbei. Es ging bei den Kindern vorbei, redete mit ihnen und begutachtete sie. Sie wurden von Lisa begrüsst und Isabelle erzählte ihnen einiges über die Kinder. Bald kamen noch weitere Paare vorbei und die Stimmung wurde etwas heller. Leider gingen einige Paare ziemlich bald wieder, ohne Interesse bekundet zu haben. Dennoch gab es einige, die sagten, dass sie sich noch beraten und in den nächsten Tagen melden würden. Eine junge Frau von etwa 30 Jahren unterhielt sich mit Isabelle über Christian und als Isabelle ihr erzählte, was für ein aufgeweckter und neugieriger Junge Christian war, war die Frau begeistert. Sie sagte, dass sie ihren Mann noch fragen werde, der derzeit leider auf Geschäftsreise war, morgen jedoch zurückkommen würde. So ging der Besuchstag bald zu ende. Als die letzten Besucher gegangen waren, wurden die Kinder ins Bett geschafft und eine Besprechung mit der Direktorin und den Betreuern stand an. Sie tauschten Informationen und Reaktionen aus, die sie von den verschiedenen Besuchern erhielten. Nachdem sie fertig waren, stellten sie fest, dass sie gerade mal vielleicht 5 Kinder bei Familien unterbringen konnten, ansonsten keine.

Die nächsten 5 Tage waren deprimierend. Die Betreuer forderten die Kinder auf, alles zusammen zu packen und halfen ihnen dabei. Auch sie selbst begannen ihre eigenen Dinge in Kisten abzufüllen, welche dann nur noch entfernt werden konnten. Lisas Entscheidung war gefallen, dass die Kinder am 16. Dezember in die neuen Waisenhäuser gebracht werden sollten, sollte sie das Geld bis am 15. Dezember nicht aufbringen können. Diese Entscheidung brach ihr beinahe das Herz, doch was hätte sie tun können? Sie war nur eine arme Frau, die sich knapp über Wasser gehalten hatte und nun vor ihrem Ruin stand. Doch sie bemitleidete nicht sich selbst, sie bedauerte die Kinder und ihre Betreuerinnen und Betreuer.

Zwei Tage nach dem Besuchstag meldete sich die junge Frau und bekundete, sie und ihr Mann möchten gerne Christian bei sich aufnehmen. Noch am selben Tag kamen die beiden vorbei und nahmen ihn mit. Christian selbst war erst skeptisch, doch als er die beiden sah, freute er sich. Sie sahen wirklich nett aus und genau so waren sie auch. Sie fuhren mit ihm in ein wunderschönes, grosses Haus. Christian stand blos staunend davor und fand, dass er noch nie so etwas schönes gesehen hatte. Sein eigenes Zimmer war so toll, wie er es sich nur in seinen kühnsten Träumen hätte ausmalen können. Er hatte sogar einen eigenen Fernseher. Am Abend, als sie bei Tisch sassen, erzählten Jason und Nina, so hiessen seine neuen Pflegeeltern, ihm, dass Jason ein erfolgreicher Geschäftsmann und oft auf Reisen war. Damit Nina hier zuhause in dem grossen Haus nicht alleine war, hatten sie beschlossen ein Kind zu adoptieren, denn ihnen selbst war es leider nicht möglich, ein eigenes Kind zu zeugen. Der Haushalt wurde zu einem grossen Teil von einigen Hausangestellten erledigt. Nur kochen beanspruchte Nina für sich, denn sie liebte das Kochen. Christian fand, dass sie sehr gut kochen konnte und freute sich auf jedes Essen. Nina unternahm viel mit ihm, weil sie oft zuhause war und nur an einem Tag arbeitete. Er konnte sich dann jeweils die Zeit mit verschiedenen Spielsachen vertreiben. Den Fernseher mochte er nicht besonders.

Während es Christian gut erging, wurden noch weitere 3 Kinder in eine Familie aufgenommen. Darunter auch Lena, Christians beste Freundin. Sie wurde erst am 15. von ihrer Familie abgeholt. Sie und ihre Freunde hatten Christian sehr vermisst. Seit er gegangen war, hatten sie nichts mehr von ihm gehört. Ja, es waren nur 3 Tage gewesen, doch 3 lange Tage. Am 16. Dezember war es dann so weit. Sämtliche 31 Kinder wurden in verschiedene Waisenhäuser aufgeteilt. Klara kam mit einigen anderen Mädchen in ein Mädchenwaisenhaus und wurde von Lars, Matthias und Jonas getrennt, die am selben Ort in ein Jungenwaisenhaus gebracht wurden. Niemand war glücklich, doch daran war nichts zu ändern. Lisa schloss das Waisenhaus am 16. am Abend ab und ging traurig zu Bett. Sie wollte noch ein letztes mal im Waisenhaus übernachten, bevor sie sich in ihr neues kleines Studio-Zimmer begab.

Es war der 18. Dezember als Nina von der Arbeit nach Hause kam. Sie hatte länger arbeiten müssen und als sie bei Christian im Zimmer nach dem Rechten sehen wollte, hörte sie, wie er im Schlaf weinte. Sie knipste das Licht an und setzte sich zu ihm ans Bett. „Christian mein Schatz, was hast du denn?“. Christian wischte sich die Tränen weg und schüttelte den Kopf: „Ich vermisse meine Freunde vom Waisenhaus.“ – „Aber Christian, das ist doch kein Problem. Wir können sie jederzeit gerne im Waisenhaus besuchen gehen, wenn du das möchtest. Du darfst sie auch gerne mal zu dir zum Spielen einladen.“. Doch Christian schüttelte den Kopf: „Nein, das Waisenhaus wird am 20. Dezember vollkommen geschlossen. Die anderen wurden schon vor 2 Tagen in neue Waisenhäuser umgeteilt.“. Nina horchte auf. Davon hatte sie gar nichts gewusst. Sie küsste Christian auf die Stirn: „Versuch zu schlafen mein Lieber, wir werden morgen schauen, was wir machen können!“, dann deckte sie ihn zu und ging aus dem Zimmer. Im Wohnzimmer griff sie zum Telefon: „Hallo Schatz!....Ja danke, mir geht es gut! Hör zu, ich muss dir etwas erzählen….!“ Am nächsten Tag als Christian aufstand war es schon 11 Uhr. Nina hatte bereits das Frühstück aufgetischt und wartete ein Buch lesend auf ihn. Sie begrüsste ihn und deutete ihm sich zu ihr setzen. Dann eröffnete sie ihm, dass sie eine kleine Überraschung für ihn habe. Sie habe gestern mit Jason telefoniert und ihm die ganze Geschichte erzählt. Jason hätte heute Morgen früh kurzerhand beim Immobilienmakler angerufen und nach dem besagten Waisenhaus „Wolkental“ gefragt. Nach einigen Verhandlungen hätte er es geschafft, den Makler zu überzeugen, dass das Waisenhaus nicht entfernt werden dürfe und hat es ihm abgekauft. Heute Nachmittag würde die Direktorin informiert und angefragt, ob sie und ihre Betreuer und Betreuerinnen noch weiterhin dort arbeiten möchten. Sobald dann alles wieder eingerichtet sei, werden die Kinder, die gerne zurück möchten, wieder aus den anderen Waisenhäuser geholt werden und zurück gebracht.

So kam es, dass am 23. Dezember alle Kinder wieder glücklich in ihren Zimmern eingerichtet waren. Alle bis auf Christian und zwei der Kinder die in Familien gebracht worden waren. Lena jedoch war wieder ins Waisenhaus zurückgekehrt. Sie hatte sich in ihrer Familie nicht wohl gefühlt und so entschloss man sich, es vielleicht irgendwann mit einem anderen Kind zu versuchen, wollte jedoch erst eine Pause machen. Christian war überglücklich, als er am 23. mit Nina ins Waisenhaus fahren konnte und dort seine Freunde wieder traf. Nina hatte ihm gesagt, dass er sie am 24. Dezember zu sich nach Hause einladen dürfe, um mit ihnen Weihnachten zu feiern. Dies geschah dann auch so. Am 24. feierten die 6 Freude mit Nina und Jason Weihnachten, während die restlichen Waisenkinder im Wolkental einen grossen Christbaum schmückten, welcher von Jason gespendet wurde. Nina hatte ihnen vorher das entsprechende Dekorationsmaterial gekauft. Am 25. feierten alle zusammen im Waisenhaus. Auch Nina und Jason waren mit Christian anwesend. Es war das schönste und familiärste Weihnachtsfest, dass die Waisenkinder bisher erlebt hatten.

THE END

(© Nicole Abgottspon)

(Diese Geschichte habe ich ebenfalls in ein Musical umgeschrieben. Bitte melden wenn Einsicht in die Unterlagen gewünscht wird!)